Bei Autismus funktionieren die Gehirne der Betroffenen anders. Es ist ein bisschen wie „viele Wege …

… führen nach Rom“. Während neurotypische Menschen die Route X wählen, machen Autisten diverse Umwege, um ans Ziel zu kommen. So zumindest ist es wohl vereinfacht dargestellt im Gehirn. Und wie bei einem Umweg mit dem Auto, ist auch der Umweg beim Denken Energie raubender. Um soziale und gesellschaftliche Situationen zu erfassen, zu verstehen und darauf eine Reaktion zu zeigen, was bei neurotypischen Menschen weitestgehend intuitiv funktioniert, benötigt unser Gehirn Denkleistung und diese kostet Energie. Ebenfalls logisch ist es da, dass die „Rechenleistung“ des Gehirns in dieser Zeit nicht für andere Zwecke zur Verfügung steht.
Nun ist es bei mir so, dass durch die Fatigue – wodurch auch immer sie ausgelöst sein mag – auch meine Konzentrationsfähigkeit und allgemein die kognitive Leistung gelitten hat. Sowohl in der Reha, als auch in der Ergotherapie hat sich das nicht wirklich bemerkbar gemacht. Bei den Hirnleistungstrainings habe ich zumeist die Highscores geknackt. Warum? Es fand jeweils über eine kurze Dauer in einer reizarmen Umgebung und ohne soziale Situationen statt. Mein Gehirn konnte die Rechenleistung ausschließlich dafür benutzen.
Nun kennen sich mein Gehirn und ich schon länger. Ich bin es einfach gewohnt gewesen, gewisse Reize zu filtern und zusätzlich noch qualitativ brauchbare Denkleistungen zu vollbringen. Und womöglich auch noch irgendwelche sozialen Situationen zu entschlüsseln, aber ich glaube, da war ich oft weniger erfolgreich.
Seit der Krebsbehandlung fehlt zwar nicht physisch was vom Gehirn, aber die Leistung ist einfach nicht mehr in dem Maße verfügbar, wie zuvor. Die Folge ist, dass ich kognitiv eben nicht mehr so gut funktioniere wie vorher und auch meine Reizfilterschwäche sich ziemlich verstärkt hat. Es hat ein bisschen so, als würde man sein Leben lang ein Formel 1 Auto gefahren sein und soll nun Golf fahren. Der Golf ist kein schlechtes Auto und kann mit den meisten anderen gut mithalten. Er fällt nicht auf. Aber: er ist kein Formel 1 Auto – man kann damit nicht das leisten, was solch ein Bolide kann.
So ist es zur Zeit bei mir. Ich lerne quasi gerade neu Autofahren – den Umgang mit meinem Gehirn. Die Frage ist, wofür kann ich wann wieviel Leistung aufwenden? Nehmen wir an, zuvor hatte ich 100 Leistungspunkte zur Verfügung. Ich stelle mir die Aufteilung in etwa so vor:
- 15 Grundlast – quasi Basics, um zu überleben, nicht gefressen und überfahren zu werden, nicht zu verhungern und zu verdursten, usw. Quasi der untere Teil der Maslow Pyramide.
- 20 Reizfilter – aktives Ausblenden aller Informationen, die das Gehirn wahrnimmt, aber eigentlich gerade gar nicht benötigt für die ausgeführte oder angestrebte Aktion. Z.B. ist das Vogelgezwitscher völlig unwichtig, wenn man gerade eine Mathearbeit schreibt, das Gespräch anderer in der Straßenbahn ist weder für mich bestimmt, noch interessiert es mich, usw.
- 25 soziale Situationen deuten – Gesichtsausdrücke, Intentionen von Aussagen, usw.
- 50 für die eigentliche Aufgabe (sei es nur kognitiv, oder evtl motorisch, dann natürlich weniger für das Kognitive)
Jetzt fehlen mir so ungefähr 40-50 Leistungspunkte durch die Fatigue. Ich denke, es ist klar, worauf das hinaus läuft… Irgendwas fällt nun quasi immer hinten runter. Ich kann äußere Reize schlechter filtern und manchmal ist auch das mit der Grundlast etwas schlechter. Zumindest geht auf keinen Fall mehr alles gleichzeitig. Und auch sequentiell ist es natürlich so, dass der Tank viel schneller leer ist, um beim Auto als Beispiel zu bleiben.
Der Plan ist, zunächst die neue Funktionsweise des Gehirns, den Golf, neu kennenzulernen. Zunächst die Grenzen und dann die Stärken ausloten. Vielleicht gelingt es ja, auch mit einem Golf etwas zu erreichen, auch wenn es länger dauert. Und wer weiß, vielleicht kommen doch mal ein paar Leistungspunkte zurück, wenn man erstmal weiß, wie’s geht…
Unterm Strich kann ich also guten Gewissens sagen „Ja, die Auswirkungen des Autismus‘ sind deutlicher, als früher.“ Autistischer bin ich deshalb nicht – so wenig wie eine Schwangere im 8. Monat schwangerer ist, als im 3. Monat.