Wissen oder Nicht-Wissen

… das ist hier die Frage.

Ist es besser, bereits als Kind oder Jugendlicher die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“ zu bekommen, bzw. ist es besser, dass die Eltern diese genannt bekommen?

Angesichts der Tatsache, dass ich durch meinen Stiefsohn ein wenig mitbekommen habe, wie heutzutage Schule abläuft, dass ich gelesen und gehört habe, welche Therapien gemacht werden, was die Therapeuten zuweilen „zulassen“ und „verlangen“, habe ich mir oft diese Frage gestellt.

Fakt ist, dass Schule und Gesellschaft heutzutage einfach anders funktionieren, als damals zu meiner Kindheit. Damals wurden alle „Sonderlinge“ einfach mitgeschleift. Man hat sie nicht großartig anders behandelt, als die anderen Kinder – einfach, weil man die Hintergründe nicht kannte. Meiner Meinung nach war das echte, gelebte Inklusion.

Das, was heute veranstaltet wird, ist der Versuch, einen Stoff zu zerschneiden, wieder zusammen zu nähen und dann zu erwarten, dass das niemand bemerkt. Kinder werden immer früher zu sozialpädiatrischen Zentren zur Diagnose geschickt – immer dann nämlich, wenn sie nicht „funktionieren“, wie andere. Sobald etwas nur einen Hauch anders ist, muss sofort quasi ein Diagnose-Etikett draufgeklebt und eine Therapie begonnen werden. Da wird also radikal getrennt und ein Sonderstatus geschaffen.

Die Therapeuten und Eltern möchten natürlich, dass auf die Schwierigkeiten der Kinder Rücksicht genommen wird, insbesondere bei Bewertungen, aber auch im Umgang an sich. Aber natürlich soll dann auch wieder Inklusion betrieben werden und an der Stelle fängt es dann an, kompliziert zu werden. Es soll der Unterschied einerseits betont, andererseits aber ignoriert werden? Mir ist bis heute nicht klar, wie das funktionieren soll.

Damals also, da waren die Maßstäbe für die Bewertung für alle gleich und damit wurde mir und möglicherweise auch einigen anderen Menschen zwar eventuell manchmal insofern Unrecht getan, als dass wir einiges schlicht nicht leisten konnten. Aber dafür bekamen wir auch etwas, nämlich die Möglichkeit, uns weniger beobachtet entwickeln zu können. Wir bekamen die einheitlichen Regeln mit Vehemenz „eingetrichtert“, aber wir haben sie gelernt und können dadurch auch als Erwachsene oft ein unauffälliges, relativ normales Leben führen.

Ja, es ist bestimmt nicht nur gut, dass man als Kind gelegentlich sozial überfordert wurde, aber ich bin davon überzeugt, dass dies der Preis für ein unabhängiges Leben als Erwachsener war. Nicht-Wissen heißt eben auch, dass andere nichts davon wissen und man so Chancen bekommt, die man nicht bekäme, wenn man gleich „die Autismus-Karte“ zieht (so nenne ich das). Oder wenn im Zeugnis dies alles bereits ersichtlich ist.

Ich gehe auch davon aus, dass das Lernen durch „abgucken“ und nachahmen von neurotypischen Personen bei Menschen aus dem Autismusspektrum am besten funktioniert. Mein Stiefsohn und seine neuerliche Entwicklung unterstützen meinen Verdacht. Über dieses „Abgucken“, Training durch Inklusion – ohne Extrawurst – kann man jahrelang unerkannt als Autist unter „Normalen“ leben.

Auch ich ziehe heutzutage öfter mal die Autismus-Karte. Einfach, weil ich es kann und ich selbst entscheiden kann, ob ich den Fokus auf den Unterschied legen möchte, oder nicht. Ich bin aber auch nicht mehr darauf angewiesen, Chancen für Beruf, Partnerschaft, Wohnen etc zu bekommen – ich habe das alles schon. Ich muss auch niemandem mehr etwas beweisen.

Ich komme daher zu dem (vorläufigen?) Schluss, dass meiner Meinung nach Nicht-Wissen bis zu einem gewissen Alter für alle Beteiligten mit Blick auf die Zukunft als junger Erwachsener sicherlich die beste Lösung ist. Ja, es ist oft hart für ein Kind und die Familien – das ist es aber auch, wenn man einen Namen für die Auffälligkeiten hätte. Und entscheidend ist ja auch, was hinten raus kommt, wie es so schön heißt…

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